So viel zum Thema Solidarität

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So viel zum Thema Solidarität


Die pogromartigen und genozidalen Massaker der Hamas und des Islamischen Dschihad haben innerhalb jüdischer Communities weltweit eine Form der kollektiven Sekundärtraumatisierung ausgelöst. Der Vernichtungswahn, mit dem gefoltert und gemordet wurde, basiert auf antisemitischer Ideologie.

Ich bin keine Nahost-Expertin und keine Journalistin. Ich arbeite hauptamtlich für den sozialen Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland, die ZWST. Ich war lange in verschiedenen jüdischen Organisationen aktiv. Ich befasse mich mit der Diversität jüdischer Lebensrealitäten und jüdischer Gegenwart vor der Kulisse ihrer Geschichte in Deutschland, mit jüdisch-feministischen Verortungen und mit Allianzen.

Vergangenes Jahr habe ich mit zwölf weiteren Autor:innen den Essayband “Sicher sind wir nicht geblieben. Jüdischsein in Deutschland” herausgegeben, der ein Fragment dieser Positionen abbildet. Wenn ich öffentlich spreche, beziehe ich mich in der Regel nicht auf meine individuelle Erfahrung, sondern auf die Einblicke aus meiner Arbeitspraxis. Auf Basis der ständigen Auseinandersetzung mit Positionen innerhalb der Community, die nicht nur meine eigenen sind, baut meine Expertise auf.

Soviel zum Thema Tokenism.

Hier also ein kurzer Einblick in den Zustand jüdischer Communities seit dem 7. Oktober: Die pogromartigen und genozidalen Massaker der Hamas und des Islamischen Dschihad haben innerhalb jüdischer Communities weltweit eine Form der kollektiven Sekundärtraumatisierung ausgelöst. Der Vernichtungswahn, mit dem gefoltert und gemordet wurde, basiert auf antisemitischer Ideologie. Die von den Terroristen produzierten Bilder haben die Funktion, den Psychoterror weiter zu befeuern. Die Augenzeugen- und Überlebenden-Berichte belegen, an welche größenwahnsinnige
Vernichtungsmaschinerie diese Bilder unmittelbar anschließen sollten.

Genau das war gewollt. Die Geschichten, dass Menschen lebendig in ihren Häusern verbrannt, vor ihren Angehörigen vergewaltigt, gequält und ermordet wurden, sich unter Leichen versteckten und tot stellten, kennen viele Jüdinnen:Juden. Sie kennen sie von ihren eigenen Großeltern. Damit sind im übrigen nicht nur die Nazi-Vernichtungsfabriken in Polen und Massenhinrichtungen in Ukraine und Litauen gemeint, sondern auch die antisemitische Repressions- und Verfolgungspolitik in osteuropäischen Ländern vor und nach dem „3. Reich“, die Vertreibungen aus den Maghreb-Staaten und dem Mittleren Osten (z.B. Farhud-Pogrom im Irak) und vieles mehr.

Soviel zum Thema ethnische Säuberung und Genozid.

Einige Spezifika für die Vulnerabilität der jüdischen Community in Deutschland sind hier noch zu nennen, bevor ich zu den Auswirkungen der aktuellen Situation komme:

  • Demografisch erfährt ein großer Teil der jüdischen Community in Deutschland gesellschaftliche Marginalisierung durch Migrationsbrüche (z.B. durch strukturelle Altersarmut),
  • anhaltende Kontinuitäten von sich verflechtender rassistischer und antisemitischer Gewalt (mit dem rechtsextremen Anschlag in Halle 2019 als Spitze des Eisbergs) seit 1945,
  • andauernde Abwehrreflexe gegenüber Selbst
    auseinandersetzung mit nationalsozialistischem Erbe in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft,
  • Anschlussfähigkeit von antisemitischem Verschwörungsglauben, besonders sichtbar seit Corona-Pandemie und Querdenken-Bewegung,
  • 45% der Mitglieder der jüdischen Community in Deutschland haben eine Herkunftsbiografie aus der Ukraine und sind somit direkt und indirekt vom russischen Angriffskrieg betroffen.

Soviel zum Thema Privilegien.

Zu den direkten Auswirkungen des 7. Oktobers auf jüdische Menschen in Deutschland nenne ich nur einige Beispiele:

  • Direkte physische Gewaltandrohungen on- und offline: z.B. Nachricht (zusammengefasst) an einen 14-Jährigen Jungen: „Ich vergewaltige deine Mutter und deine Schwester und dann bringe ich dich um. Nach der Schule“
  • Offene Beleidigungen und Einschüchterungs-versuche, Drohungen und Schikanen, vermehrt adressiert an vulnerable Personen: sehr junge oder alte Menschen, Menschen mit Behinderung
  • Brandanschlag auf Synagoge/Gemeindezentrum, in dem sich auch eine KiTa befindet
  • Gewalt nach israel-solidarischen Kundgebungen (Teilnehmer:innen wird aufgelauert, sie müssen sich in Geschäften in der Fußgängerzone verstecken, manche werden krankenhausreif geprügelt)
  • Schmierereien an Häusern
  • Entführungsandrohungen
  • Terrorverherrlichung
  • Massenhafte Reproduktion antisemitischer Propaganda

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus und der Beratungsstellenverbund für Betroffene von antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK erfassen alle gemeldeten Fälle. RIAS hat einen Monitoring-Bericht für die Zeit zwischen dem 7. und 15. Oktober herausgegeben, Bilanz: 240% Anstieg an Meldungen.

Soviel zur Behauptung, es gäbe keinen israelbezogenen Antisemitismus.

Ein Aspekt, der mich seit dem 7. Oktober außerdem nicht loslässt, ist: Das Ausmaß der explizit sexualisierten Gewalt in Form von Massenvergewaltigungen sowie durch die Terroristen angekündigte Zwangsprostitution und Versklavung verschleppter Frauen. Die Reproduktion dieser Gewalt in Form von verbalen Drohungen. Und vielleicht das Schlimmste: Die weitgehend ausbleibende Positionierung dazu aus
feministischen Kreisen.

Ich weiß nicht, mit wie vielen jüdischen Frauen ich in den letzten eineinhalb Wochen gesprochen habe, die von Alpträumen, Out-of-Body-experiences und Panikattacken berichtet haben.

Soviel zum Thema Intersektionalität.

Mir geht es nicht um Opferkonkurrenz, denn dass die palästinensische Zivilbevölkerung leidet, ist genauso ein Fakt wie alle oben genannten Punkte. Ich werde auch nicht zulassen, dass diese Bestandsaufnahme für rassistische Mobilmachung und rechte Machtansprüche instrumentalisiert wird, denn darunter würden wir alle leiden. Ich lasse mir meine Werte nicht von Faschisten nehmen.

Worum es mir aber geht: Fragt euch, an welchen Stellen ihr euer Weltbild hinterfragen solltet und warum ihr es bis heute nicht von allen Formen des Antisemitismus befreien konntet.

Soviel zum Thema Solidarität.

Laura Cazés

passiert am 11.11.23